Studierenden von Frau Prof. Ricken aus der Universität Hamburg haben 10 Fragen an das Levumi Team geschickt. Die Antworten wurden von Susanne Giering und Prof. Markus Gebhardt beantwortet. Susanne Giering ist eine erfahrene sonderpädagogische Lehrkraft, welche Levumi bereits in der Praxis eingesetzt hat und nun selbst an der Universität lehrt und Tests entwickelt.

Welche drei größten praktischen Hindernisse bei der flächendeckenden und nachhaltigen Einführung der Lernverlaufsdiagnosik (LVD) an allgemeinen Regelschulen identifizieren Sie (abgesehen von der reinen Testkonstruktion), und welche konkreten Lösungsansätze schlagen Sie vor, um diese effektiv zu überwinden?

Markus Gebhardt: Als wir 2015 Levumi gegründet haben, waren die ersten Rückmeldungen, dass es keine Computer, keine Tablets und kein WLAN gibt. Diese Zeit der fehlenden Hardware ist jedoch vorbei. Nun liegen die Probleme bei der Vernetzung der IT und eines fehlenden Verständnisses von pädagogischer Diagnostik als Entscheidungsgeber für Teams. Selbst Förderschulen nehmen zum Teil Diagnostik immer noch nur als Feststellungsdiagnostik wahr, haben die Ergebnisse der Tests im Keller archiviert und machen davon unabhängig differenzierten Klassenunterricht. LVD benötigt aber eine verzahnte Diagnostik und Förderung. Lernverlaufsdiagnostik spielt seinen Vorteil erst im Teameinsatz aus, wenn Pädagog:innen an konkreten Förderzielen arbeiten. Levumi und andere Software bietet den Vorteil, dass die Ergebnisse digital mit allen geteilt werden können. Daher nutzen Levumi aktuell einzelne Lehrkräfte und Schulen.

Flächendeckend und nachhaltig wird LVD erst, wenn es auf Systemebene eingebunden ist. So müsste die Software mit dem Lehrplan, den bürokratischen Anforderungen der Schule und des Schulamtes konkret verbunden sein, damit Förderpläne Schultyp und Bundesland passend digital geplant, durchgeführt, evaluiert und dokumentiert werden. Dies übersteigt die Anforderungen an eine bundesweite Forschungsplattform wie Levumi, welche auch keinen Support bieten kann.

In Zukunft denke ich, dass flächendeckend und nachhaltig durch Angebote wie beispielsweise unseres Start-UPs Förderfokus möglich ist. Dieses Start-Up fokussiert sich auf die einzelnen Schultypen und ihren verwaltungstechnischen Anforderungen der Förderplanung und Dokumentation. In diese wird dann LVD als passende Erweiterung integriert.

Stellen die standardisierten Tests nicht auch eine Art Norm dar; sind sie nicht normativ, indem sie standardisiert sind? Wer legt diese Norm fest?

Markus Gebhardt: Levumi verwendet das Konzept der robusten Indikatoren. Das heißt, dass wir die Teilkompetenz genau messen, welche für den weiteren Erfolg sich empirisch als besonders wichtig erwiesen hat. Dieser wird mit möglichst vielen Items mit engen Abstimmungen gemessen. Die Lehrkraft und die Schüler erhalten Rohwerte, welche kriterial interpretierbar sind. Die Tests selbst sind psychometrisch sehr sauber geprüft und entsprechen dem Raschmodell. Es gibt zwar eine Normierung, aber die normierten Werte werden nicht ausgegeben. Jede Lehrkraft soll für die Schüler die passenden Tests auswählen und dann die Lernentwicklung messen. Somit entscheidet sich die Lehrkraft selbst für den Vergleichsmaßstab zu ihrer Förderung. Daher haben wir recht viele Tests und nicht einen Test pro Klassenstufe.

Wie kann die Lernverlaufsdiagnostik bei Kindern mit stark unterschiedlichem Lerntempo eingesetzt werden, ohne dass sich langsam lernende Kinder unter Druck gesetzt fühlen?

Susanne Giering: Wenn die Lernverlaufsdiagnositk digital, wie es bei Levumi ja normalerweise der Fall ist, durchgeführt wird, sehen die Schüler:innen nicht, welche Aufgaben die anderen Kinder bearbeiten. Es ist also kein direkter Vergleich möglich. Die Rückmeldung am Ende der Aufgabenreihe (Levumi jubelt, oder nicht) bezieht sich ausschließlich auf die vorhergehende individuelle Leistung des einzelnen Schülers. Generell ist es aber so, dass die Schüler:innen einer Klasse allgemein schon relativ gut einschätzen können, wer schneller lernt und weiter ist oder wer eher langsamer lernt. So gehört es zur Aufgabe der Lehrkraft diese Unterschiede ganz unabhängig von LVD gut zu begleiten und eine Lernatmosphäre schaffen sollte, in der alle Fortschritte wertgeschätzt werden.

Wenn die Lehrkraft zusammen mit der/dem Schüler:in den individuellen Lernverlaufsgraphen anschaut, sieht das Kind/ der Jugendliche ebenfalls nur den eigenen Lernverlauf. Hier ist es dann natürlich die Verantwortung der Lehrkraft die Rückmeldung so zu gestalten, dass das Kind nicht frustriert ist und demotiviert wird, auch wenn die Fortschritte vielleicht gerade nicht so, wie gewünscht sind.

Markus Gebhardt: Ich denke auch, dass die Didaktik hier die Wirkung vorgibt. LVD ist für Dokumentation von individueller Lernentwicklung gedacht und ermöglicht so der Lehrkraft noch genauer zu sagen, wo und wieviel Lernfortschritt gemacht wurde. Das hilft insbesondere den langsamen Lernern, da so ihre Fortschritte auch positiv dokumentiert sind, welche ohne LVD nicht wahrgenommen werden.

Wie kann die Lernverlaufsdiagnostik helfen, die Selbstwirksamkeit von Schüler*innen zu fördern, insbesondere bei Kindern, die häufig Misserfolgserfahrungen erleben?

Susanne Giering: Levumi zeigt ja schon kleine Lernfortschritte an, so dass das Kind in der Regel sehr schnell zumindest kleine Verbesserungen sieht und erkennen kann, dass sich das Üben lohnt.

Die einzelnen Tests der Lernverlaufsdiagnostik werden aufgrund der Niveaustufen individuell zugeordnet und umfassen jeweils „nur“ Teilkompetenzen, die gezielt gefördert werden können. So kann in der Regel jedes Kind / jeder Jugendliche Fortschritte machen, die dann auch direkt zu sehen sind (jubelnder Levumi / Veränderung am Individualgraph).

Und wenn es keine Fortschritte gibt kann die Lehrkraft aufgrund der regelmäßigen Tests schnell reagieren und die Förderung und Unterstützung anpassen.

Markus Gebhardt: Das ist der Vorteil von Levumi. Andere LVD Anbieter mit einem Klassenstufenansatz zeigen die Lernentwicklung immer im sozialen Vergleich mit einem breiteren und gröberen Test, bei dem kleinere Lernfortschritte möglicherweise untergehen.

Wie wirken sich lernverlaufsdiagnostische Verfahren auf die individuelle Förderplanung bei Menschen im Autismus-Spektrum oder emotionalen Beeinträchtigungen aus? Gibt es bei diesen SchülerInnen weitere Tests? Kann eine Lernverlaufsdiagnostik auch bei Menschen mit Schwerstbehinderung angewendet werden?

Markus Gebhardt: Durch den robusten Indikator Ansatz kann jede Lehrkraft den passenden Test auswählen. Kinder mit dem SPF geistige Entwicklung nehmen daher die gleichen Tests, wie alle anderen auch, wenn Sie auf dem passenden Lernniveau sind. Dies ist bei der Leseflüssigkeit beispielsweise etwas später der Fall. Nikola Ebenbeck et al. (2024) hat dies an GB Schulen evaluiert.

Susanne Giering: Die Lernverlaufsdiagnostik kann bei Schüler:innen im Autismus-Spektrum oder emotionalen Beeinträchtigungen genauso eingesetzt werden. Die Levumitests sind reizreduziert und sehr kurz (1 bis 5 Minuten).

Bei der Rückmeldung durch die Lehrkraft ist bei Kindern, die emotionale Probleme und eine geringe Frustrationstoleranz haben eine besonders sensible Vorgehensweise (s. Frage 3) notwendig. Gegebenenfalls können die Tests zur Partizipation und Verhalten auf Levumi ergänzt werden.

Die LVD auf Levumi kann bei allen Schüler:innen angewendet werden, die Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, also auch bei einem Teil der Schüler:innen mit geistiger Behinderung.

Wie sollten Lehrkräfte bei der Interpretation von kleinen Rückschritten, Plateauphasen oder unstabilen Datenpunkten im Lernverlauf sicherstellen, dass sie diese nicht voreilig als Versagen der Intervention deuten, obwohl sie möglicherweise noch im Bereich des statistischen Messfehlers oder normaler Schwankungen liegen? Welche Faustregel empfehlen Sie hier?

Markus Gebhardt: LVD ermöglicht mehrere kurze Tests. Daher kann man genau diese Fragen beantworten. Wir empfehlen den Tukey Three Split (Siehe Gebhardt, 2024) und mehrere Messungen. Im Gegensatz zur kontrollierten Einzellfall, wird eine Lehrkraft eher maximal Präphase 3 + Intervention 5 + Postphase 2 Messungen durchführen. Meist vermutlich viel weniger. Um so mehr Messungen ich habe, um so genauer ist es. Aber ich sehe die Messwerte eher als Trend, den die Lehrkraft mit ihren anderen Eindrücken interpretiert. Im Vergleich zu einer einmaligen Statusdiagnostik messen wir bei der LVD jedoch sehr viel genauer.

Susanne Giering: Dies kommt auch auf den Test, das Konstrukt und den Lernfortschritt an. Generell muss man schauen, welche Teilkompetenz getestet wird. Beim Üben von 1*1-Reihen werden in der Regel schneller größere Fortschritte erzielt, als beim Textverständnis, oder auch der Leseflüssigkeit. Bei Rückschritten, Plateaus oder nur kleinen Fortschritten ist es sinnvoll nach 3-4 Testungen die Intervention zu ändern und die Ergebnisse / Fortschritte zu vergleichen, um zu erkennen, welche Intervention besser wirkt.

Wie ist es mir als angehende Lehrkraft möglich, die Ergebnisse aus der Lernverlaufsdiagnostik konkret zu benutzen, um die Förderentscheidungen für Schüler*Innen zu treffen, ohne dabei in typischen Test- und Ergebnisorientierungen zu verfallen?

Susanne Giering: Der Blickwinkel ist bei der Lernverlaufsdiagnostik ein anderer, dadurch, dass ich primär den Lernverlauf des/der einzelnen Schüler:in verfolge und es mir hier nicht um Noten o.ä. geht. Natürlich möchte ich, dass das einzelne Kind/ der einzelne Jugendliche Fortschritte macht, hier geht es aber v.a. um die individuelle Bezugsnorm, nicht um den (sozialen) Klassenvergleich. Der Klassenvergleich ist v.a. dann wichtig, wenn ich wissen möchte, welche Schüler:innen vom aktuellen Klassenunterricht nicht ausreichend profitieren (die sogenannten Non-Responder) und eine andere Förderung benötigen. Die Begleitung durch Lernverlaufsdiagnostik stellt für die Schüler:innen aus meiner Erfahrung auch keine Testsituation, wie bei Lernzielkontrollen statt, sondern sie lösen halt einige Aufgaben am Tablet, z. B. im Rahmen des Wochenplans.

Welche zukünftige Rolle kann die Künstliche Intelligenz in der Lernverlaufsdiagnostik spielen und gibt es ihrer Meinung nach ethische Grenzen in der Anwendung dieser?

Markus Gebhardt: KI ermöglicht individuelle Tutoren und Rückmeldungen für Lehrkräfte und Schüler:innen. Diese können eine Ergänzung zur LVD sein, wenn Sie getestet und geprüft sind. Die KI ist wie LVD ein ergänzendes Tool und kann im richtigen Einsatz sinnvoll sein. Aktuell forschen wir an diesem Thema. 

Wie kann man im Unterricht vermeiden, dass man zu sehr „für den Test“ arbeitet und trotzdem die Lernverlaufsdiagnostik sinnvoll nutzt?

Markus Gebhardt: Aktuell ist das Konzept der robusten Indikatoren zu wenig im Schulsystem verankert. Lehrkräfte fördern Kompetenzen sehr unterschiedlich und sehen Unterricht und Kompetenz als verschiedene Bereiche an. Das muss konzeptionell besser verknüpft sein. Ich sehe aktuell da also eher die Probleme in einem falschen Verständnis von Kompetenz, welches durch die fachdidaktische Forschung geprägt ist und zu viele Bereiche fordert. Dies kann man nur bedingt bei Kindern mit Lernschwierigkeiten umsetzen. Die Frage ist daher eine andere. Was müssen alle Kinder lernen und wo sollen wir sie fördern. Testen würde ich nur bei den Basiskompetenzen, während schülerzentriertes Lernen sich auch an den Interessen des Kindes orientieren sollte.

Susanne Giering: Indem ich eine sinnvolle Förderung durchführe, die u.a. die Teilkompetenz, die meine aktuelle LVD abprüft enthält, in der Regel aber auch andere Kompetenzen.  Schwerpunkt sind dabei robuste Indikatoren, also Teilkompetenzen, die entscheidend für die Kompetenzentwicklung in dem Bereich sind (also z.B. Kopfrechnen für die Mathematik und Leseflüssigkeit für das Lesen).

Wie funktioniert das mit der Anonymität bei Levumi genau – können Lehrkräfte trotzdem die Entwicklung einzelner Schüler:innen verfolgen?

Markus Gebhardt: Die Lehrkraft legt die Schüler an und testet. Die Lehrkraft hat keine Einschränkung und kann Ergebnisse mit anderen Lehrkräften auch teilen. Die Anonymität bezieht sich auf uns Forscher. Wir bekommen nur einen gesamten Datensatz und wissen nicht wo die Lehrkräfte sind. Dadurch wissen wir auch nicht, wo Levumi besonders im Einsatz ist. Wir können mit den Daten die Tests psychometrisch prüfen.