ein Gastbeitrag von Judith Zellner:
Die optimale Entwicklung eines Kindes kann durch passende Förderung unterstützt werden. Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien helfen dabei, diese pädagogischen Förder- und Handlungsentscheidungen passgenau an die Bedarfe der Schüler:innen zu adaptieren, indem die Befunde aus systematischer Forschung (Evidenz) mit der individuellen Expertise der Lehrkräfte und Pädagog:innen verknüpft werden. Fördermaßnahmen lassen sich ableiten, wenn es Konzepte und Modelle darüber gibt, nach welchen Schritten sich eine Kompetenz entwickelt und wie sie erlernt werden kann. Diagnostik hilft dabei, die aktuelle Entwicklungsstufe eins Kindes zu identifizieren und in einem Entwicklungsmodell zu verorten. Die nächsthöhere Stufe ist, Vygotsky (1987) zufolge, die Stufe der nächsten Entwicklung und das Ziel der Förderung des Kindes. Diagnostik und Förderung stehen somit in einem engen Verhältnis, bedürfen dafür aber einer gemeinsamen theoretischen Basis, wie Entwicklungsmodellen des Lernbereichs.
Modelle zur schulischen Entwicklung
Die hier genannten Entwicklungsmodelle sind weder vollständig, noch detailliert beschrieben. Die Auflistung dient lediglich einer ersten Übersicht. Modelle der phonologischen Bewusstheit, des Lesens und Schreibens überschneiden sich, daher werden manche Modelle des Schriftspracherwerbs mehrfach genannt.
Phonologische Bewusstheit – Vorläuferkompetenz von Schriftspracherwerb
Marx (2007) beschreibt die Entwicklung der phonologischen Bewusstheit als dreistufigenProzess:
- Bewusstheit für größere Einheiten (Silben, Reime)
- Übergang zur Phonemebene
- Integration in den Schriftspracherwerb
Innerhalb des Konzepts wird zwischen phonologischer Bewusstheit im weiteren und engeren Sinne unterschieden (Skowronek / Marx 1989).
Im Modell des Schriftspracherwerbs nach Frith (1985) wird die Entwicklung der phonologischen Bewusstheit als Teil des Lesen- und Schreibenlernens beschrieben, insbesondere in der zweiten, alphabetischen Phase, in der Buchstaben-Laut-Beziehungen im Fokus stehen.
Modelle zum Lesen
Das Mehrebenen-Modell des Lesens von Rosebrock und Nix (2014) ist ein etabliertes Modell, das die komplexen Prozesse beim Lesen systematisch beschreibt. Es kombiniert kognitive, motivationale und soziale Aspekte des Lesens. Lesen wird dabei nicht als isolierter Vorgang verstanden, sondern als ein in verschiedene Kontexte eingebetteter Prozess, welcher aus drei Ebenen besteht: Prozessebene, Subjektebene, soziale Ebene. Eine Besonderheit des Modells ist, dass Lesekompetenz nicht allein die kognitiven Fähigkeiten einer Person widerspiegelt, sondern als Zusammenspiel von Wissen, Motivation und sozialem Kontext betrachtet wird.
Das zwei-Wege-Modell (Dual-Route-Model; Coltheart 1978) beschreibt die Verarbeitung und das Lesen von geschriebenem Text über zwei parallele Wege:
- Lexikalischer Weg: Direkte Worterkennung basierend auf gespeicherten Wortbildern (für bekannte Wörter).
- Sublexikalischer Weg: Entschlüsselung neuer oder unbekannter Wörter über Buchstaben-Laut-Regeln.
Entwicklungsmodelle, wie beispielsweise jenes von Frith (1985) oder Günther (1986) gliedern die kognitiven Teilprozesse des Lesens nach hierarchieniedrigen und -höheren Prozessen. Frith (1985) schlägt dabei drei Stufen vor, die sich auf die Strategien des Lesenlernens konzentrieren:
- Logographische Phase: Wörter werden anhand visueller Merkmale erkannt.
- Alphabetische Phase: Anwendung phonologischer Regeln, Entschlüsselung von Buchstaben-Laut-Zusammenhängen.
- Orthografische Phase: Automatisierte Worterkennung durch Speicherung von Wortbildern
Günther (1986) beschreibt in seinem Entwicklungsmodell des Schriftspracherwerbs den Prozess des Lesen- und Schreibenlernens ebenfalls in mehreren aufeinander aufbauenden Stufen. Insbesondere im deutschsprachigen Raum findet dieses Modell viel Beachtung, da es die spezifischen Herausforderungen der deutschen Orthografie berücksichtigt. Das Zusammenspiel von Lesen und Schreiben wird in fünf Stufen beschrieben.
Ein in der aktuellen Literatur häufig genanntes Modell ist das Modell zur Leseentwicklung von Lenhard (2019). Es basiert auf aktuellen Erkenntnissen der Leseforschung und integriert wichtige Faktoren, die den Erwerb und die Förderung von Lesekompetenz prägen: Entwicklungsdimensionen der Lesekompetenz, Prozessstufen der Leseentwicklung und Einflussfaktoren auf die Leseentwicklung. Es ist in der deutschsprachigen Literatur vor allem durch seine Praxisrelevanz und wissenschaftliche Fundierung bekannt, indem es kognitive, motivationale und soziale Aspekte integriert.
Modelle zum Rechtschreiben
Für den Rechtschreiberwerb haben sich Stufenmodelle durchgesetzt, die grundlegend auf dem Modell nach Frith (1985) basieren. Günther (1986) hat das Modell erweitert und für den deutschen Sprachraum publik gemacht. Etwas später ergänzte Scheerer-Neumann dieses erneut, was man heute unter dem Namen „Drei Wege der Rechtschreibentwicklung“ (Frith, ergänzt durch Scheerer-Neumann, 2001) kennt. Dieses Modell beschreibt drei Zugänge zur Rechtschreibentwicklung:
- Visuell (Ganzheitsmethode): Wörter werden auswendig gelernt
- Phonologisch (Buchstabe-Laut-Korrespondenz): Lautgetreues Schreiben
- Regelbasiert (orthografisches Wissen): Anwendung von Rechtschreibregeln.
Als Rahmenmodell zur Schriftsprachverarbeitung hat sich auch das Zwei-Wege-Modell (Coltheart 1978) etabliert. In diesem Prozessmodell geht es darum, wie die/der Schüler:in zum geschriebenen Wort kommt (siehe auch: Lesen).
Valtin (1997) beschreibt die Rechtschreibentwicklung als Prozess zunehmender Regelbewusstheit:
- Vorstufe: Erste Kritzeleien, Symbolzeichen ohne Bezug zur Schriftsprache
- Nachahmendes Schreiben: Wörter werden nachgeahmt, oft als Pseudo-Schrift
- Phonetisches Schreiben: Lautgetreue Schreibweise, ohne Berücksichtigung orthografischer Regeln
- Rechtschreibregelorientiertes Schreiben: Erwerb und Anwendung von Rechtschreibregeln
- Automatisiertes Schreiben: Rechtschreibung wird zunehmend automatisiert und flexibel angewendet.
Zusammenfassend stellt Thomé (1999) in der Integration von acht zu diesem Zeitpunkt geläufigen Modellen zum Rechtschreiberwerb fest, dass alle Theorien sich auf drei grobe Entwicklungsphasen einen lassen:
- logographemische / diffuse Phase
- (halb- und voll-)alphabetische Phase
- orthographische Phase
Ergänzender Hinweis: Die Entwicklung orthographischer Kompetenzen ist stark durch den unterrichtlichen Aufbau geprägt. Es wird zuerst das gelernt, was zuerst gelehrt wird.
Modelle zur mathematischen Entwicklung
Das Entwicklungsmodell des Zahlbegriffs nach Piaget (1952) beschreibt den Erwerb mathematischer Kompetenzen als Teil der kognitiven Entwicklung. Er unterscheidet drei zentrale Entwicklungsphasen: Präoperationale Phase, konkret-operationale Phase, formal-operationale Phase
Im deutschsprachigen Raum tauchen drei Entwicklungsmodelle wiederkehrend in der Literatur auf, die den Entwicklungsverlauf früher mathematischer Kompetenzen beschreiben:
das ZGV-Modell von Krajewski (2013, 2007, 2003), das Niveaustufenmodell von Fritz & Ricken (2008) sowie ein neuropsychologisches Modell von Aster et al. (2005)
Krajewski (2013, 2007, 2003) beschreibt im Modell der Zahl-Größen-Verknüpfung (ZGV-Modell) die Entwicklung früher mathematischer Kompetenzen über drei Ebenen: Grundlegende numerische Kompetenzen (Mengen- bzw. Größenunterschiede), Fortgeschrittene numerische Kompetenzen (Verknüpfung von Zahlwörtern / Ziffern und Mengen), mathematisches Verständnis (Verständnis für Zahlenbeziehungen und das Dezimalsytem)
Das Niveaustufenmodell der frühen mathematischen Kompetenzentwicklung bildet die drei Stufen des ZGV-Modells in einem fünfstufigen Modell ab (Fritz / Ricken 2009). Eine Zusammenfassung der Evaluation und der theoretischen Fundierung ist in Ricken et al. (2013) zu finden.
Von Aster et al. (2005) fokussieren in ihrem Modell der mathematischen Entwicklung neuropsychologische Aspekte. Es werden dabei vier Entwicklungsstufen und Kompetenzen in Hirnarealen verortet:
Stufe 1: basis-numerische Fertigkeiten
Stufe 2: alphabetische / phonologische Zahlwortsymbole
Stufe 3: visuell-arabische Zahlsymbole
Stufe 4: Zahlenraumvorstellung
Erst auf der 4. Stufe werden demnach alle Rechenoperationen verknüpft und automatisiert.
Fischer et al. (2017) systematisieren den Entwicklungsverlauf und leiten aus mehreren Modellen eine Übersicht an Kernkompetenzen ab, indem sie inhaltliche Überschneidungen der Modelle identifizieren. Diese sind nachfolgend aufgelistet. Während die ersten sechs Kompetenzen aufeinander aufbauen, verläuft die Entwicklung von Rechnen (7) und Stellenwertsystem (8) nach Fischer et al. (2017) parallel.
- Mengen schätzen und vergleichen
- Zahlwortreihe und Zählen (ordinales Zahlverständnis)
- Zahlensymbole lesen und schreiben
- Zahlengröße verstehen (kardinales Zahlverständnis)
- Zahlbeziehungen verstehen (relationales Zahlverständnis)
- Zahlenraumvorstellung
- Rechnen (Addition / Subtraktion)
- Stellenwertsystem
Literatur
Aster, M. von, Kucian, K., Schweiter, M., Martin, E. (2005): Rechenstörung im Kindesalter. Monatsschrift Kinderheilkunde 153 / 2005, 614–622
Coltheart, M. (1978): Lexical Access in Simple Reading Task. In: Underwood, G. (Hrsg.): Strategies of Information Processing. Academic Press, London, 151–216
Fischer, U., Roesch, S., Moeller, K. (2017): Diagnostik und Förderung bei Rechenschwäche. Messen wir, was wir fördern wollen? Lernen und Lernstörungen 6 (1), 25–38
Frith, U. (1985): Beneath the Surface of Developmental Dyslexia. In: Patterson, K., Marshall, J. C., Coltheart, M. (Hrsg.): Surface Dyslexia: Neurological and Cognitive Studies of Phonological Reading. Lawrence Erlbaum, Hillsdale (NJ), 301–330
Fritz, A., Ricken, G. (2009): Grundlagen des Förderkonzeptes „Kalkulie“. In: Fritz, A., Ricken, G., Schmidt, S., Ricken, G. (Hrsg.): Handbuch Rechenschwäche. Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie. Beltz, Weinheim, 374–395
Günther, K. B. (1986): Ein Stufenmodell der Entwicklung kindlicher Lese- und Schreibstrategien. In: Brügelmann, H. (Hrsg.): ABC und Schriftsprache. Faude, Konstanz, 32–54
Krajewski, K. (2003): Vorhersage von Rechenschwäche in der Grundschule. Kovač, Hamburg
Krajewski, K. (2007): Entwicklung und Förderung der vorschulischen Mengen-Zahlen-Kompetenz und ihre Bedeutung für die mathematischen Schulleistungen. In: Schulte-Körne, G. (Hrsg.): Legasthenie und Dyskalkulie: Aktuelle Entwicklungen in Wissenschaft, Schule und Gesellschaft. Winkler, Bochum, 325–332
Krajewski, K. (2013): Wie bekommen die Zahlen einen Sinn: ein entwicklungspsychologisches Modell der zunehmenden Verknüpfung von Zahlen und Größen. In: Aster, M. von, Lorenz, J. H. (Hrsg.): Rechenstörungen bei Kindern: Neurowissenschaft, Psychologie, Pädagogik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 155–179
Krajewski, K. (2018): MBK 0. Test mathematischer Basiskompetenzen im Kindergartenalter. Hogrefe, Göttingen
Krajewski, K., Ennemoser, M. (2013): Entwicklung und Diagnostik der Zahl-Größen-Verknüpfung zwischen 3 und 8 Jahren. In: Hasselhorn, M., Heinze, A., Schneider, W., Trautwein, U. (Hrsg.): Diagnostik mathematischer Kompetenzen. Tests und Trends Bd. 11. Hogrefe, Göttingen, 41–65
Lenhard, W. (2019): Leseverständnis und Lesekompetenz. Grundlagen – Diagnostik – Förderung. 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart
Marx, H. (2007): Theorien und Determinanten des Erwerbs der Schriftsprache. In: Schöler, H., Welling, A. (Hrsg.): Sonderpädagogik der Sprache. Handbuch Sonderpädagogik Bd. 1, 92–147
Ricken, G., Fritz, A., Balzer, L. (2013): MARKO-D. Mathematik- und Rechenkonzepte im Vorschulalter – Diagnose. Hogrefe, Göttingen
Rosebrock, C., Nix, D. (2014): Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. Grundlagen der Lesedidaktik. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler
Scheerer-Neumann, G. (2018): Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie. Grundlagen, Diagnostik und Förderung. Lehren und Lernen. 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart
Skowronek, H., Marx, H. (1989): The Bielefeld Longitudinal Study on Early Identification of Risks in Learning to Read and Write. Theoretical Background and First Results. In Brambring, M., Lösel, F., Skowronek, H. (Hrsg.): Prevention and Intervention in Childhood and Adolescence. De Gruyter, Berlin, 268–294
Thomé, G. (1999): Orthographieerwerb. Qualitative Fehleranalysen zum Aufbau der orthographischen Kompetenz. Theorie und Vermittlung der Sprache Bd. 29. Lang, Frankfurt a.M.
Valtin, R. (1997). Stufen des Lesen-und Schreibenlernens. Schriftspracherwerb als Entwicklungsprozeß. Handbuch Grundschule, 2, 76-88. Vygotsky, L. S. (1987): Thinking and Speech. In: Rieber, R. W., Carton, A. S. (Hrsg.): The Collected Works of L. S. Vygotsky. Cognition and Language, Vol. I: Problems of General Psychology. Plenum Press, New York, 39–285
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